Elisabeth Voß

Dipl. Betriebswirtin (FH) und Publizistin, Berlin

Wegweiser Solidarische Ökonomie: Einleitung

„So lange Menschenrechte nicht überall und unterschiedslos für alle Menschen durchgesetzt sind, kann ich mit dieser Welt nicht einverstanden sein. Die materielle Basis der Verstöße gegen Menschenrechte sehe ich in der kapitalistischen, profitorientierten Ökonomie begründet. Dabei ist mein Blick geprägt von diesem Deutschland mit seiner mörderischen Vergangenheit, von diesem Europa mit seinen tödlichen Außengrenzen und von dieser nördlichen Hemisphäre mit ihrem ausbeuterischen und zerstörerischen Ressourcenfraß.“
Aus der Einleitung zur ersten Auflage 2010.

Im Grunde hat sich für mich seit 2010 nichts geändert, weder an meinem Nichteinverstandensein mit der Welt noch daran, dass ich mir meines privilegierten Blickes bewusst bin. Während ich am Schreibtisch sitze – der Abgabetermin rückt näher – müssen Hunderte Flüchtlinge auf der Straße leben, mitten in Berlin. Familien mit Kindern, alte und kranke Menschen. Dann werden plötzlich, über Nacht, weit mehr als 100, vielleicht fast 200 von ihnen hier bei mir um die Ecke in einer leerstehenden Schule einquartiert, unregistriert, ohne Geld, ohne Fahrscheine, ohne Krankenversorgung. Nachbar*innen organisieren solidarische Nothilfe, unterstützen die Neuankömmlinge und helfen bei der Essensausgabe in der Einrichtung. Ich sitze am Schreibtisch und schreibe über Solidarität.

Zu erleben, dass andere das tun, was ich gerne täte, aber gerade nicht kann, tut mir gut. Aus solcher Solidarität kann Zutrauen wachsen, dass „wir“ - wer immer das im Einzelfall sein wird – das gemeinsam schon schaffen werden. Dass es Menschen gibt, die ansprechbar sind, wenn es drauf ankommt, und dass alle das tun, was wichtig ist und für sie gerade geht.

Schon als ich die erste Auflage des „Wegweiser Solidarische Ökonomie“ geschrieben habe, war es mir wichtig, von einem erweiterten Begriff von Solidarischer Ökonomie auszugehen, sie nicht auf wirtschaftliche Selbsthilfe zu reduzieren, sondern über dies Gemeinschaftliche hinaus auch die Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Nicht nur genossenschaftliche Formen des Wirtschaftens zu zeigen, sondern ebenso soziale Kämpfe um Ressourcen und öffentliche Unternehmen einzubeziehen, und eine globale Perspektive nicht aus dem Blick zu verlieren, damit „people before profits“ – es soll um Menschen gehen, nicht um Gewinne – für alle gilt, nicht nur für eine Gruppe oder für die Menschen in einem Land.

Als ich mit der Aktualisierung begonnen habe, war mir klar, dass es mir nicht reichen würde, ältere Beispiele für solidarisches Wirtschaften zu überprüfen und neue hinzuzufügen. Nach den vielen Veranstaltungen, Seminaren und Diskussionen der letzten Jahre wollte ich nicht nur die Vielfalt zeigen, sondern sie auch viel stärker kommentieren, auf Ambivalenzen und Widersprüche hinweisen, Fragen und Herausforderungen benennen. An den Punkten, die mir besonders am Herzen liegen, bin ich tiefer eingestiegen, um nicht nur zu zeigen, sondern zu beschreiben, zu erläutern, die Leser*innen auf der Entdeckungstour zu begleiten – das hat mir beim Schreiben viel Freude gemacht. Ich hoffe, dass ich damit einen Beitrag zum Verständnis der Bandbreite anderen Wirtschaftens leisten kann, und dass es mir gelingt, nachvollziehbar zu machen, warum mir die Notwendigkeit einer kritischen Perspektive so am Herzen liegt.

Bei den Beispielen habe ich mich nach wie vor auf Deutschland konzentriert. Die Initiativen, Projekte etc. aus anderen Ländern habe ich diesmal nicht in ein eigenes Kapitel gepackt, sondern jeweils dort einsortiert, wo inhaltlich vergleichbare Beispiele hierzulande vorgestellt sind. So schien es mir aussagekräftiger, beispielsweise die demokratische Ausrichtung des US-amerikanischen Energieversorgers SMUD dort zu behandeln, wo es um die Gestaltung der Energieversorgung geht, als unter einer Sammelüberschrift „Blick über die Grenzen“. Die Literaturhinweise habe ich diesmal gesondert ans Ende gestellt, ebenso wie Hinweise auf ein paar Filme.

Nach wie vor sind die Beispiele subjektiv ausgewählt und recht Berlin-lastig, ohne den Anspruch, dass sie besonders repräsentativ oder gar vollständig wären. Da ich selbst „aus der Alternativökonomie des letzten Jahrhunderts“ herkomme, gibt es Projektewelten, in denen ich mich zu Hause fühle, und andere, die ich verwundert anschaue. Ich habe mich bemüht, Einblicke in die vielfältige Welt anderen Wirtschaftens anzubieten, nicht mehr und nicht weniger. Und ich freue mich, wenn Leser*innen sich davon inspirieren lassen, genauer nachzuschauen und sich ein eigenes Bild zu machen.

Mit diesem Wegweiser habe ich mich vorerst vom Binnen-I verabschiedet, das ich etwa 20 Jahre lang verwendet habe. Lange war mir nicht bewusst, wie ausgrenzend die dominante Zweigeschlechtlichkeitsnorm von denjenigen erlebt wird, die damit eben nicht mitgemeint sind. Auf der Suche nach einer geeigneten Form habe ich mich gegen den Unterstrich entschieden, weil er mir so leer, fast geschlechtslos scheint. Das Sternchen drückt für mich etwas Schönes, Strahlendes aus. Darum habe ich es hier ausprobiert und Gefallen daran gefunden.

Dieser Wegweiser richtet sich in erster Linie an Einsteiger*innen, die sich einen Eindruck verschaffen möchten, wie vielseitig Solidarische Ökonomien sein können. Gleichzeitig hoffe ich, dass auch diejenigen, die sich schon länger mit dem Thema befassen, neue Hinweise oder Gedanken darin entdecken.

An diesem Wegweiser haben auch andere Menschen mitgewirkt, bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanke. In den 25 Jahren, die ich der Reaktion der CONTRASTE – Monatszeitung für Selbstorganisation angehörte, ermöglichte es Dieter Poschen, Herz und Seele der Zeitung, dass ich mich mit Solidarischen Ökonomien lesend und schreibend befassen konnte. Im März 2013 ist er plötzlich gestorben – er fehlt mir. CONTRASTE lebt weiter, dank des Engagements der Redaktion und insbesondere von Ulrike Kumpe, die als Redaktions-Koordinatorin das weitere Erscheinen absichert. Seit ich auch für OYA schreibe, verdanke ich deren Chefredakteurin Lara Mallien viele Hinweise darauf, wenn mein Schreibstil mal wieder blutleer und hölzern wurde. Ein inspirierender Gesprächspartner für Genossenschaftsfragen ist mir seit Jahren Mathias Fiedler vom Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften (ZdK).

Ich bedanke mich bei meinen Vorstandskolleg*innen vom NETZ für Selbstverwaltung und Selbstorganisation für ihre Ermutigungen, sowie für inhaltliche Anregungen, kritische Nachfragen und Vorschläge für weitere aufzunehmende Beispiele. Darüber hinaus verdanke ich Marlis Cavallaro, dass die gröbsten Satzungetüme und „Nominalstil-Monster“ den Leser*innen erspart bleiben.

Bei Karl-Heinz Bächstädt bedanke ich mich für geduldiges Korrekturlesen und dafür, dass er mich beharrlich auf inhaltliche Fehler hingewiesen hat. Dieser Kreis von vertrauten Menschen war mir beim Schreiben außerordentlich hilfreich. Was trotzdem noch hakt oder unstimmig ist, verantworte ich allein.

Mein Dank geht auch an die Organisationen, die Zuschüsse zu den Druckkosten gegeben haben und vorne genannt sind, sowie an diejenigen, die am Ende des Buches Anzeigen aufgegeben haben. Nur durch diese solidarischen Unterstützer*innen ist es möglich, dass das Buch, trotz des deutlich erhöhten Umfangs, zu einem günstigen Preis angeboten werden kann. Nicht zuletzt bedanke ich mich auch beim AG SPAK Verlag und insbesondere bei Waldemar Schindowski, der damals die Idee zur ersten Auflage des Wegweiser hatte, und auch diesmal trotz Zeitdruck immer geduldig und freundlich blieb.

Elisabeth Voß, Berlin, August 2015

Weiterführende Links zum Buch werden auf www.voss.solioeko.de online gestellt. Über Anregungen, Korrekturen und Rückmeldungen freue ich mich an wegweiser(at)elisabeth-voss(dot)de.

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